Gedichte sind out.
Die letzten beiden Lyrikbände, die in meiner Hand lagen, stammten von Günter Grass und Jan Wagner – das eine, weil eben vom großen, alten Grass, das andere aufgrund des Preises zur Leipziger Buchmesse. Diese überraschende Auszeichnung für Wagners „Regentonnenvariationen“ war zwar gut gemeint, änderte aber mitnichten unsere Lesegewohnheiten: Romane werden verschlungen, Gedichte weder gekauft noch gelesen, geschweige denn auswendig gelernt. Gedichte sind – ich wiederhole mich – eben out.
Darüber mag man klagen oder nicht, mein Thema heute ist ein anderes: Lyrik als Sprachübung, als Möglichkeit den Wörtern nahe zu kommen. Mein heutiger Schreibtipp gerade an Prosa-Autoren lautet also: Probiert Gedichte. Immer wieder. Denn in keiner anderen Gattung sind die einzelnen Worte, ja Buchstaben, wichtiger als eben hier. In einem Roman ist nicht jeder Ausdruck zwingend, die Bandbreite größer, der Thesaurus nutzbarer. Bei einem Gedicht aber zählt jede Nuance. Wer bei einer Verszeile das perfekt passende Wort sucht, lernt deshalb viel über seine Sprache, über deren Möglichkeiten, über das magische Zusammenspiel von Inhalt und Klang.
Gedichte schreiben ist eine großartige Übung. Das jeweilige Resultat muss dagegen nicht unbedingt großartig sein. Schreibe ich ein Gedicht, geht es mir weniger um die Qualität als um’s Training. Ein wirklich gutes Gedicht kommt dabei nur selten heraus – vielleicht eins von hundert. Aber das macht nichts, geht es mir dabei doch nicht anders als vielen Großen und Berühmten. So packend die Prosa von Grass beispielsweise sein kann, so grenzwertig sind manche seiner Gedichte. Von einem anderen Schriftsteller-König stammen folgende Verse:
Denn du regst dich lustig im Bade, ziehest
und streckest
Keck die Beinchen, stoßweis‘, und schlägst mit den kleinen Armen
In die behagliche Flut mit unternehmender Miene,
Die zu zeigen stolz, in der nassen Wange ein Grübchen, –
Über den Wannenrand springen die Tropfen und nässen den Rock mir.
Diese greußlichen, in die Form des Hexameters geschlagenen Verse stammen von einem der fantastischsten Prosa-Autoren dieser Welt: Thomas Mann. Zum Glück blieb sein „Gesang vom Kindchen“ dessen einziger Versuch in Versform.
Also, schreibt Gedichte und kümmert euch nicht primär um die Qualität des Ergebnisses. Völlig gleichgültig ist auch, ob ihr Reime bevorzugt oder modernere Formen, erzählende Balladen oder assoziative Bilder. Alles ist erlaubt und gut. Schreibt Gedichte, probiert aus welche Formen Euch am ehesten liegen. Spürt den Klängen nach, die entstehen, den unterschiedlichen Farben der Vokale, den eckigen Formen der Konsonanten. All das lässt sich in der Lyrik leichter erfahren, in der Prosa aber sehr wohl nutzen. Ein weiterer Vorteil dieser Gattung ist natürlich die relativ hohe Geschwindigkeit, mit der solche Texte entstehen. Wenn ich in meinem Roman-Manuskript nicht weiterkomme, schreibe ich wenigstens ein kleines Gedicht. Dabei ist, noch einmal sei’s gesagt, dessen literarische Qualität nicht zentral – Hauptsache ich bin und bleibe in Kontakt mit Wörtern.
Quelle: https://einbuchwiekingsturm.wordpress.com
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